Kommentar

Glück gehabt. Ich lebe in einem Einwanderungsland. 

Günther Ogris

Seit meiner Geburt lebe ich in Wien. Damals in den 60er Jahren war Wien ziemlich grau. Nicht nur die Häuserfassaden und die Haarfarbe der Menschen, auch die Röcke, die Jacken und die Mäntel. Die Farbe Grau war das Symbol der weit verbreiteten Altersarmut. Wien war eine verschlafene Stadt und hatte ein verschlafenes Image. Die Bevölkerung wurde weniger, bis Anfang der 90er Jahre gab es mehr Abwanderung als Einwanderung in Wien, und das, obwohl Menschen aus Jugoslawien und der Türkei als Gastarbeiter angeworben wurden.

Das hat sich glücklicherweise geändert. Seit Mitte der 90er Jahre gibt es endlich mehr Zuwanderung als Abwanderung. Am Beginn stand eine traurige Ursache. , Die Trendwende brachten die Menschen aus Jugoslawien, die vor dem Krieg flüchteten. Von da an profitierten die Städte und Industriegebiete von den jungen Menschen, die nach Österreich kamen. Die Zuwanderung wurde begünstigt durch den Beitritt zur Europäischen Union, die EU-Erweiterungen 2004 und 2007, den Syrienkrieg ab 2011, die Unterversorgung in den UNHCR-Lagern 2014 und 2015 und dann der Russland-Ukraine-Krieg seit 2022 – all diese Faktoren beschleunigten Flucht und Zuwanderung nach Wien. Wien ist mittlerweile auf über 2 Millionen Menschen angewachsen, ein Zuwachs von mehr als einer halben Million.

Wien ist aufgeblüht. Neue Wohnbaugebiete sind entstanden, neue Parks und Grünflächen, neue moderne Schulen, neue Fußgängerzonen, neue Radwege. Die Jugend Mittel- und Osteuropas kommt zur Ausbildung nach Wien. Jugendliche, die in Deutschland durch den Numerus Clausus behindert werden, bekommen in Wien eine Zukunftschance. Zuletzt hat die Familienzusammenführung eine hohe Zahl an schulpflichtigen Kinder nach Wien gebracht. Willkommen Zukunft – schön, dass ihr da seid und danke an Alle, die sich beruflich und ehrenamtlich anstrengen, um die damit verbundenen Herausforderungen zu meistern. Die Stadt Wien hat es 2023 und Anfang 2024 geschafft, jeden Monat etwa elf neue Schulklassen zu eröffnen. Alle Achtung – das ist eine großartige Leistung. Ich bin stolz auf diese Stadt.

Und immer wenn andere die Migration beklagen oder ihre Hetzreden halten, denke ich: Es ist allemal besser dort zu leben, wo es Einwanderung gibt, als dort, wo ausgewandert wird. Und es ist allemal besser dort zu leben, wo man Kinder in den Parks und den Straßen spielen sieht, als in ausgestorbenen Dörfern.

Ungarn zum Beispiel ist ein Auswanderungsland. Die besser ausgebildete ungarische Jugend geht vor allem nach Deutschland, Großbritannien und nach Österreich. Viktor Orban etabliert sich als Kämpfer gegen die Einwanderung – und dabei läuft ihm die Jugend davon. Noch stärker von Abwanderung betroffen als Ungarn sind Länder wie Rumänien, Bulgarien oder Moldawien. Auch in Österreich gibt es Gebiete die Abwanderungsregionen sind. Vor allem die jungen Frauen gehen von ländlich-peripheren Regionen in die Stadt.
Dort gibt es nicht nur ganztags gratis Kinderbetreuung, sondern auch einen geringeren Gender Pay Gap und bessere Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen.

Die Abwanderung bedroht die Gemeinschaft. Die Menschen verlieren ihre Freunde und Beziehungen. In vielen Gemeinden gibt es keine Geschäfte mehr, keine Restaurants, nicht einmal mehr einen Bankomaten. Der ländliche Raum wächst vor allem in der Nähe der Städte, in der Peripherie sieht man keine Jugend mehr in den Dörfern.

Abwanderung bedroht die Gesellschaft und das Zusammenleben, Zuwanderung stärkt die starken Regionen. Um drei Effekte von Zuwanderung zu nennen: etwa 1,4 Millionen Einwanderer zahlen jeden Monat in die österreichische Pensionsversicherung ein – Geld das unmittelbar den PensionistInnen zugutekommt. Und in der Pflege und der Hauskrankenpflege arbeiten mehrheitlich zugewanderte Arbeitskräfte. In Abwanderungsgebieten aber fehlen diese Pflegekräfte, und die ganze Pflegearbeit müssen die Angehörigen erledigen. Und in Zuwanderungsgebieten gibt es eine lebendige Gastronomie, ausreichend WirtInnen und KellnerInnen.

Ich habe das Glück und lebe in einem Einwanderungsland – die Menschen kommen, weil es Menschen hier gut geht. Und durch diese Zuwanderung wird es noch besser. Wenn man etwas bekämpfen sollte, dann die Auswanderung – in dem man gute Lebensbedingungen und Chancen für Alle schafft.

Günther Ogris, MA

… geb. 1960, wissenschaftlicher Methodologe, von 1996 bis 2023 wissenschaftlicher Leiter und Geschäftsführer des SORA-Institutes, seit 2024 wissenschaftlicher Leiter der Mediatest Research GmbH und Vorsitzender des dema!institutes, #Demokratie für alle.

Weiter Kommentare